Das innere Kind verabschieden statt heilen

Die Arbeit mit dem inneren Kind ist seit einiger Zeit richtiggehend in Mode. Die meisten Ansätze und Empfehlungen laufen in die Richtung, das innere Kind zu hegen und zu pflegen, es zu beschützen und als ein wertvolles Gut zu bewahren. In der Psychotherapie wird oft versucht, mit neuen Glaubenssätzen die Sichtweise des inneren Kindes zu korrigieren, es zu heilen, wenn es beispielsweise um traumatische Erlebnisse geht.

Dieser Text wurde in Anlehnen an das von Stephen Wolinsky (Begründer der Quantenpsychologie) verfasste Buch „Die dunkle Seite des inneren Kindes“ (Lüchow Verlag) verfasst und soll ein neues Verständnis über unsere Zeit- und Wirklichkeitswahrnehmung wecken.

Wolinsky verfolgt einen anderen Ansatz, der eigentlich einleuchtender ist: Die Strategien, die das innere Kind in seiner damaligen Situation entwickelt hat, waren damals richtig und notwendig. Wolinsky spricht von Trancezuständen, die „in der Kindheit erschaffen wurden, um das Chaos im Leben zu bewältigen.“ Diese Trancezustände sind im Erwachsenenalter allerdings unangebracht, weil sie Mechanismen beinhalten, die sich auf Vergangenes und nicht auf die Gegenwart beziehen. Mit dem vorliegenden Ratgeber will Wolinsky dem Leser zeigen, wie er „das Tun des inneren Kindes“ erkennen und die Identifikation mit den alten Trancezuständen beenden kann. Es soll eine Befreiung vom „verwundeten inneren Kind, das (in seiner Erinnerung) feststeckt“, vollzogen werden, damit die Gegenwart wieder gelebt werden kann.

Zentral in Wolinskys Ansatz ist die Unterscheidung zwischen innerem Kind und Beobachter: „Die Quantenpsychologie sagt, dass Sie (der Beobachter) als Reaktion auf ein Trauma eine Erinnerung des inneren Kindes erschaffen und festhalten. Deutlicher gesagt: Der Beobachter erschafft nicht das äussere Ereignis; der Beobachter erschafft die Reaktion auf dieses äussere Ereignis.“ Diese Unterscheidung ist gemäss Wolinsky der Schlüssel für die Befreiung von den alten Trancezuständen: „Daher muss der Beobachter, der eingeschlafen und mit dieser Erinnerung verschmolzen ist, aufgeweckt werden, damit er (der Beobachter) die Erinnerung loslassen kann.“

Einen Trancezustand des inneren Kindes hinter sich zu lassen, geschieht am besten, indem der „kreative Aspekt“ des Beobachters angesprochen wird, so Wolinsky. Praktisch bedeutet das, dass man den Trancezustand, in den man bislang quasi automatisch gefallen ist, willentlich herbeiführt und damit die Kontrolle und Entscheidungsfreiheit zurückgewinnt. Der Autor zeigt anhand von zehn typischen Trancezuständen, „die das innere Kind hervorgerufen hat und in denen es lebt“, wie man die Selbstbestimmung zurückgewinnen kann und sich damit von lästigen Automatismen, die nicht mehr angebracht sind, befreit. Sein Vorgehen ist schlüssig und einleuchtend und er folgt einer klaren Struktur. Die zahlreichen Beispiele, die er anführt, sind meist etwas gar ausserordentliche Fälle, von denen man sich möglicherweise nicht angesprochen fühlt. Aus ihnen sollte man aber nicht den Schluss ziehen, dass einen das ganze nichts angeht, denn von Wolinskys Erkenntnissen kann wohl jeder profitieren